Sinnliche Zeitreise
Braun, glatt, rundlich, außen hart und innen ganz weich. Herrlich dieser Moment wenn die Lippen die äußere Schale streifen und mit sanftem, aber bestimmtem Druck zum Platzen bringen.
Ein leichtes Knacken zeugt vom durchdringenden Erfolg. Die Offenbarung nach dem Öffnen der äußeren Schutzhülle: der samtig weiche Genuss der süßen, im Gaumen schmelzenden, schneeweißen Masse. Optik, Geschmack, vor allem aber der Duft „beamen“ uns schlagartig zurück in die Kindheit. Ebenso unerwartet wie vertraut steigt er uns verheißungsvoll in die Nase und führt uns – einer spontanen Zeitreise gleich – aus der Lebensmitte an unsere Anfänge zurück. Und ehe man es sich versieht, befindet man sich auf einer seiner ersten Geburtstagssfeiern im Kreise der Freunde. Beim Topfschlagen.
Kalt. Kalt, gaaanz kalt, wärmer, wärmer, noch wärmer, HEISS. Die Belohnung unter dem Topf:
DAS Objekt frühkindlicher Begierde, das nicht nur für einen dicken Bauch, sondern auch für sinnlich verklebte Hände sorgt, die – von den Erwachsenen so geliebte – nachhaltige Flecken auf der Couchgarnitur und an den Wänden hinterlässt.
Lange vor dem ersten Kuss hat ihn jeder bereits genossen. Den ersten Negerkuss. Auch bekannt als Mohrenkopf oder politisch korrekt als Schoko- oder auch Schaumkuss.
Letzteres nimmt immerhin vorweg, woraus dieser sinnliche Kindes- und Erwachsenen-Verführer überwiegend besteht: Aus einer schaumig-cremigen Mischung von geschlagenem Eiweiss und… Zucker. Getragen und gestützt von einer Waffel. Das Ganze verpackt in eine schützende Hülle aus leckerer Vollmilchschokolade. Ein einfaches, gerade zu simples Rezept, das Kinderherzen höher schlagen lässt und das Kind im Manne oder in der Frau erweckt.
Und das Ernährungsberater schier zur Verzweiflung treibt. Da kann noch so sehr vor dieser ungeheuren Kalorienbombe gewarnt und auf die ungesunden Inhaltsstoffe verwiesen werden.
100 g des schokoladigen Kusses enthalten durchschnittlich immerhin 67 g Kohlehydrahte (also Zucker), knapp 11g Fett und keine 3g an Eiweiß. Der „Nährwert“ liegt allerdings bei satten 1586 Kilojoule.
Es ist wie bei anderen Sünden, die das Leben einfach lebenswert machen: Geliebt und gegessen wird er trotzdem. Von Kindern und solchen, die es beim Hineinbeißen spontan wieder werden.
Die ersten Schokoküsse sollen um 1800 in Dänemark hergestellt worden sein. In Frankreich wurden die handgemachten „tetes de negre“ in Konditoreien im 19. Jahrhundert feil geboten. Die Massenproduktion der „Negerkopfes“ begann in Deutschland um 1950 und setzt seitdem den Siegeszug der begehrten Masse rund um die Welt fort. In leichten Variationen in der Zusammensetzung der Komponenten.
Nichts konnte ihm bislang den Rang ablaufen. All die kleinen Snacks für Zwischendurch, ob Kinderschokolade, Kinderpingui oder Milchschnitte haben es nicht geschafft, ihn vom Thron des puren, ungetrübten Kinderglücks zu stoßen.
Die einfachen Dinge sind es eben, die uns lange im Gedächtnis und am Gaumen der Erinnerung haften bleiben.
Sie werden es merken, sollten Sie deutlich zu viel davon genossen haben. Spätestens, wenn ein kleines Kind an der Hand seines Vaters auf Sie zeigt und grinsend ausruft: Mann, ist der dick Mann!
Dann heisst es: kalter Entzug oder dazu stehen … zur sinnlich-schokoladigen Versuchung, der sich keiner auf Dauer entziehen kann.